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1986

Die Szene: schnell & vergänglich

 

Die Szene: schnell & vergänglich

Konzerte werden gerade zwei Tage im voraus übers Buschtelefon angekündigt, als Auftrittsorte dienen Treppenhäuser, Keller und Wohnzimmer, und die Akteure selbst feiern dabei als Musiker manchmal gleich Premiere. Nicht selten ist das erste auch fast schon wieder das letzte Mal. Die Zeiten ändern rasch und deshalb könnten die nachfolgenden Zeilen von Andy Huber bereits wieder überholt sein.

Zürich 1986, die grosse Zeit von Bands wie Mother's Ruin und TNT liegt schon acht Jahre zurück, die meisten Akteure von damals sind von ihren wilden Jahren heute gleichermassen weit entfernt wie die verpönten Alt-68-er zu Beginn der Punk-Ära. Auch die Kämpfer- und Märtyrer-Hochkonjunktur 80/81 gehört bereits zur fernen Geschichte und mutet im Rückblick beinahe so exotisch an wie Woodstock und Polo Hofer zusammen.
Der verzweifelt-hoffnungsvollen Auflehnung jener Tage ist die abgeklärte Resignation gefolgt; das Leben geht weiter, ob die Ideale jener Zeit nun nachträglich verschrottet oder sachte dem Älterwerden angepasst werden. Karrieredenken, politischer Bierernst und Einfallslosigkeit grassieren heute genauso wie 78/79, als das blosse Erscheinen von vier oder fünf Punks zum hitzig diskutierten Thema von linken Veranstaltungen werden konnte. Unterdessen arbeiten in Banken und städtischen Ämtern gebleichte Igelfrisuren, und auch die abenteuerlichste Lederjacke vermag die Öffentlichkeit nicht mehr ernstlich zu schockieren. Provokation via Aussehen ist kaum mehr aktuell, seit Science Fiction für die Mode entdeckt wurde. Unausrottbar übriggeblieben sind allerdings die bekannten Süchte: Vergnügen, Drogen, Musik, Religion, Politik und was noch der Laster mehr sind. Nach dem leisen Abserbeln der Jugendbewegung und der darauffolgenden Schweigeperiode wird 1986 aber mit all diesen Dingen da und dort wieder etwas weniger orthodox umgegangen. Denn: Der schönen oder verpassten alten Zeit nachzutrauern ist durchaus in Mode, aber seit kurzem gibt es auch viele Leute, die emsig daran werkeln, dass hier und heute etwas läuft.
Bis 1984 hatten die meisten "alten Untergrundbands" den Löffel abgegeben. Übrig blieb ein Konzentrat Musiker, die mittlerweile "richtig spielen" gelernt hatten und sich in neuen Bands versuchten. Sarah Röben oder Complete Enchanter besassen zwar fraglos alle Qualitäten, standen damit in der verwaisten Szene aber auch gleich alleine da. Ausser dem Achmed von Wartburg, der mit seiner Verdorbenen Jugend meistens den Grossteil der Zuhörer vergraulte, gab es wirklich nicht mehr viel Lustiges.
1985 waren dann plötzlich Strick da, ein Trio der minimalen Besetzung Schlagzeug, Bass und Stimme. Sie brachten mit ihren kurzen vergnügten Nonsens-Nummern eine euphorische Stimmung auf die Bühne, die seit Jahren verloren gegangen war, aber nun umso schneller um sich griff. Gleichzeitig bildeten andere lebensfrohe Zeitgenossen wilde Tanzorchester: Clan Miller & The Hot Kotz beleben seither den Swing und die Blasmusik neu für die 80-er, während Pirelli & The Pancakes in Dampfhammer-Manier alten und neuen Rhythm & Blues vortragen.
Der neue Zürcher Musikfrühling war eingeleitet und bald ging es an allen Ecken los. Nun wollte niemand mehr sein Licht unter den Scheffel stellen oder jahrelang im Übungsraum verstauben vor dem ersten Auftritt. Waren ein paar Leute einige Wochen oder Monate zusammen, wurde stracks ein erstes Konzert beziehungsweise öffentliches Üben im kleinen Rahmen gewagt. Die spärlichen herkömmlichen Veranstaltungsorte (Rote Fabrik, Kanzleizentrum) wurden vorerst nicht bemüht, dafür erlebten Abbruchhäuser und frisch aufgeräumte Keller rauschende Parties mit überraschenden Live-Darbietungen. Der Musik-Stil war eher zweitrangig, es zählte allein der Spass der Band und des Publikums. Da gab es zum Beispiel die neugegründeten Baby Jail, die eiligst ein Repertoire aus vergangenen bis uralten Hits zusammenstellten, bevor sie sich an die Entwicklung von Eigenkompositionen machten. Und ihr erster Auftritt fand in einem Treppenhaus im Kreis 4 statt, während sich etwa vierzig Leute im Entree und unter der Haustür drängten.

Zu Beginn des Jahres 1986 wurde dann fast jede Woche die Premiere einer neuen Band gefeiert. Als absolute Sensation entpuppten sich dabei die Dampfnudeln, bestehend aus dem Damenchor der Clan Miller mit Rockinstrumentierung, verstärkt mit einem grimmigen Schlagzeuger. Das Quartett lancierte auf Anhieb einige Ohrwürmer, die für den Rest des Lebens kaum mehr aus dem Kopf zu bringen sind, um dann einige Monate wieder auseinanderzubröckeln (und für einen einmaligen Auftritt als Steam Pasta wieder aufzuerstehen). Besser Kurzlebigkeit als Langeweile!

Nicht lange liess die nächste Steigerung des einheimischen Musikschaffens auf sich warten: Sie heisst Domina & The Slaves. Mit einfacher Rock-Besetzung liefern sie einen Sound irgendwo zwischen Iggy Pop und Dead Kennedys, der keine Fragen mehr offen lässt und die Band rasch zu kleinen Untergrundstars machte.

Ganz dem Geschmack entsprechend wurden die verschiedensten Gruppen bejubelt, die Rockabilly-infiszierten Nemo ebenso wie die Hell Raisers, die den Glitter-Rock wiederentdeckten und mit Perücken und hohen Absätzen über die Bühne stolperten.

Der plötzliche musikalische Reichtum in Zürich regte andererseits auch alte Hasen zu neuen Aktivitäten an und machte die Stadt ausserdem wieder attraktiver für Bands aus anderen Kantonen. So wurden zum Beispiel derart exzellente Gruppen wie die Hunchbacks (Aarau) und die Del Pharaos aus dem Oltener Starclub zu regelmässigen Gästen in den hiesigen Kellern, und sogar die beinahe vergessenen Abgas und 08-15 wagten wieder Konzerte.

Wo vor einem Jahr noch gähnende Unlust herrschte, besieht heute ein stolzes Angebot an auf trittsfreudigen Musikern jeglichen Kalibers. Dabei geht es nicht allein um die Musik als solche: Hauptsache bleibt schlicht das Vergnügen an der eigenen Kreativität. Weshalb auch immer wieder neue Formen auftauchen. So führten kürzlich bei Nacht vier Einfallsreiche im See ein Wasserballett, welches sich nur mit "absonderlich" umschreiben lässt, vor. Und auf den verschiedensten Parties werden die seltsamsten Ideen ausprobiert. - Der ganz spezielle Tip: Dichterlesung mit den eigenen Schulaufsätzen!

Zürich war eine der ersten Städte auf dem Kontinent, die mit der Punkwelle aus England etwas Eigenständiges anzufangen wusste und könnte nun in absehbarer Zeit zu einem Pilgerort Europas werden.

Andi Huber

Bonus Text:
Bye bye Elvis von Bob Fischer (als pdf)

soundtrack

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Close Your Eyes 03:16 The Kick

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Don't Ask Me For Your Tears 03:05 Domina and the Slaves

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Happy (By No Means) 04:07 Complete Enchanter

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Hawaii 5-0 01:26 The Killer Planets

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Kleptoman 03:47 Nilp

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S.C.B 04:11 Ladyshave